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os, sucht mich, schnell!«Downgrounds lachende Stimme rief nach ihnen.
»Hier entlang! Nein, hier! Hier!«
Sie folgten dem schmalen Band aus Mumienstoff
tief in die Erde hinein.
»Ja, hier bin ich!«
Sie bogen um eine Ecke und blieben stehen, denn
das Leinenband wand sich über den Boden einer Grabkammer und eine Wand hinauf und schlängelte sich um die Füße einer uralten braunen Mumie, die in einer kerzenbeleuchteten Nische schräg an die Wand gelehnt war.
»Ist das …« stammelte Ralph Bengstrum, der selbst als Mumie verkleidet war, »… ist das eine echte Mumie?«
»Ja.« Staub rieselte unter der goldenen Maske derMumie hervor. »Echt.«
»Mr. Downground! Sie!«
Die goldene Maske fiel mit einem glockenhellen
Wo eben noch die Maske gewesen war, war jetzt das Gesicht einer Mumie, eine Pfütze aus braunem Schlamm, in den die Sonne Risse gebrannt hatte. Ein Auge war mit Spinnweben zugeklebt, das andere, in dem hellblaues Glas blitzte, weinte Tränen aus Staub.
»Ist einer unter euch, der als Mumie verkleidet ist?« fragte die von den Stoff binden halb erstickte Stimme.
»Ja, Sir, ich!« quietschte Ralph und zeigte seine Arme und Beine und seine Brust, die er den ganzen Nachmittag lang mit Mullbinden umwickelt hatte, bis er wie eine Mumie aussah.
»Gut«, seufzte Downground. »Nimm den
Stoffstreifen und zieh!«
Ralph bückte sich, packte die Leinenbinde und riß daran.
Das Band wirbelte herum und herum und gab die große, alte,
schnabelartige Reptiliennase, das schartige Kinn und den trocken
lächelnden, mit Staub überpuderten Mund von Downground frei. Seine
gekreuzten Arme fielen herab.
»Danke, mein Junge! Macht keinen Spaß, eingewickelt zu sein wie
eine Grabbeigabe für das Land der Toten. Doch still! Schnell,
Jungs, springt in die Nischen und rührt euch nicht! Es kommt
jemand. Tut so, als wärt ihr Mumien, Jungs. Tut so, als wärt ihr
tot.«
Die Jungen sprangen in die Nischen, kreuzten die Arme, machten die
Augen zu und hielten die Luft an. Sie sahen aus wie ein Fries aus
kleinen Mumien, der aus dem Urgestein herausgehauen worden
war.
»Keinen Mucks«, flüsterte Downground. »Da kommt …«
Ein Beerdigungszug.
Eine Armee von Trauernden in Gold und feinen Seidenstoffen, die
Spielzeugsegelschiffchen und kupferne, mit Speisen gefüllte
Schüsseln in den Händen hielten.
In der Mitte des Zuges war der Mumiensarg, der, leicht wie
Sonnenschein, auf den Schultern von sechs Männern ruhte. Und
dahinter wurde eine erst kürzlich eingewickelte Mumie getragen, auf
deren Bandagen mit frischer Farbe Bilder gemalt waren und deren
Gesicht unter einer goldenen Maske verborgen war.
»Seht die Speisen und das Spielzeug«, flüsterte Downground. »Sie
stellen Spielzeug in die Grabkammern, damit die Götter kommen und
spielen und tollen und herumtoben und glücklich wie die Kinder ins
Land der Toten laufen. Seht die Schiffchen, die Drachen, die
Springseile, die Spielzeugmesser …«
»Aber seht doch mal, wie klein die Mumie ist«, sagte Ralph in
seinen warmen Leinenbinden. »Das ist ein zwölfjähriger Junge! Wie
ich! Und die goldene Maske auf seinem Gesicht – kommt euch die
nicht bekannt vor?«
»Pipkin!« riefen alle mit belegter Stimme.
»Pssst!« zischte Downground.
Der Beerdigungszug hatte angehalten. Im Flakkern der Fackelschatten
sahen sich die Hohepriester forschend um.
Die Jungen in ihren Nischen kniffen die Augen zu und hielten den
Atem an.
Downground war ein Moskito in Toms Ohr. »Kein Flüstern«, sagte er,
»keinen Laut.«
Die Harfenmusik setzte wieder ein.
Der Beerdigungszug setzte sich in Bewegung.
Und inmitten von all diesem Gold und Spielzeug, den Drachen der
Toten, lag die kleine, zwölfjährige, frisch eingewickelte Mumie mit
einer Goldmaske, die genau aussah wie …
Pipkin.
Nein, nein, nein, nein! dachte Tom.
»Ja!« fiepte ein Mäusestimmchen. Es klang winzig, verloren,
eingepackt, eingeschnürt, gefangen, verzweifelt. »Ich bin’s! Ich bin hier, unter der Maske. Unter den
Binden. Kann mich nicht bewegen! Kann nicht schreien. Kann mich
nicht befreien!«
Pipkin! dachte Tom. Warte!
»Ich kann nichts machen! Ich bin
gefangen!« rief die kleine, in bemalte Tücher gewickelte
Stimme. »Folgt mir! Ihr findet mich in
…«
Die Stimme verklang, denn der Beerdigungszug war um eine Ecke des
dunklen Labyrinths gebogen und verschwunden.
»Wohin sollen wir dir folgen, Pipkin?« Tom Skelitt sprang aus
seiner Nische und rief in die Finsternis. »Wo sollen wir dich
finden?«
Doch genau in diesem Augenblick fiel Downground wie ein gefällter
Baum aus seiner Nische. Wumm! schlug er auf dem Boden
auf.
»Warte!« warnte er Tom und blickte ihn aus einem Auge an, das
aussah wie eine Spinne, die in ihrem eigenen Netz gefangen ist.
»Wir werden Pipkin schon noch retten. Aber mit Vorsicht. Ihr müßt
schleichen, Jungs, psst!«
Sie halfen ihm auf, nahmen ihm einige der Bandagen ab, schlichen
auf Zehenspitzen durch den langen Gang und bogen um die
Ecke.
»Auweia«, flüsterte Tom. »Seht nur: Sie legen Pipkins Mumie in den
Sarg und den Sarg in den … den …«
»Sarkophag.« Downground sprach ihm den Zungenbrecher vor. »Ein Sarg
in einem Sarg in einem Sarg. Jeder größer als der vorige, und alle
mit Hieroglyphen versehen, die seine Lebensgeschichte
erzählen.«
»Pipkins Lebensgeschichte?« fragten
sie.
»Oder wer immer Pipkin zu dieser Zeit war, in diesem Jahr, vor
viertausend Jahren.«
»Ja«, flüsterte Ralph. »Seht euch die Bilder auf den Seiten des
Sargs an. Pipkin mit einem Jahr. Pipkin mit fünf. Pipkin mit zehn –
wie er rennt. Pipkin in einem Apfelbaum. Pipkin, wie er so tut, als
würde er im See ertrinken. Pipkin, wie er sich durch einen
Pfirsichgarten ißt. Moment mal – was tun sie jetzt?«
Downground verfolgte das Geschehen. »Sie stellen Möbel in die
Grabkammer, damit er im Land der Toten welche hat. Und Schiffchen,
Drachen, Kreisel. Frisches Obst für den Fall, daß er in hundert
Jahren aufwacht und hungrig ist.«
»O ja, da wird er sicher hungrig sein. Du liebe Zeit, sie gehen
hinaus! Sie verschließen die Grabkammer!« Downground mußte Tom
packen und festhalten, denn der begann verzweifelt auf und ab zu
springen. »Pipkin ist noch immer da drin, begraben! Wann retten wir
ihn endlich?«
»Später. Die Lange Nacht ist ja noch jung. Wir werden Pipkin
wiedersehen, keine Angst. Und dann …«
Die steinerne Tür der Grabkammer fiel zu.
Die Jungen jammerten und schrien. Im Dunkeln konnte man das Kratzen
und Schmatzen des Mörtels hören, als die letzten Steine eingesetzt
und die Risse und Fugen verschmiert wurden.
Die Trauernden gingen mit stummen Harfen davon.
Ralph stand in seiner Mumien-Verkleidung benommen da und sah den
Schatten nach.
»Bin ich darum als Mumie verkleidet?« Er betastete die Binden. Er
strich über die lehmig-rissige alte Haut seines Gesichtes. »Ist das
meine Rolle bei dem, worum es an Halloween geht?«
»Ganz genau, Junge«, murmelte Downground. »Was die Ägypter gebaut
haben, sollte bestehen. Sie haben für zehntausend Jahre geplant.
Grabkammern, Jungs, Grabkammern. Gräber. Mumien. Knochen. Tod, Tod.
Der Tod war das Herz, der Magen, das Licht, der Leib und die Seele
ihres Lebens! Grabkammern und noch mehr Grabkammern, mit geheimen
Zugängen, damit man sie nicht finden konnte, damit Grabräuber keine
Seelen, kein Gold, kein Spielzeug stehlen konnten. Du bist eine
Mumie, weil das die Art war, wie sie sich damals für die Ewigkeit
anzogen. Sie glaubten, daß sie, wenn sie in einen Kokon aus
Stofffäden eingehüllt wären, in einer anderen, weit entfernten,
wunderschönen Welt als herrliche Schmetterlinge wiedergeboren
würden. Sieh dir deinen Kokon genau an. Streich über das
eigenartige Material.«
»Aber«, sagte Ralph die Mumie und betrachtete blinzelnd die
rauchgeschwärzten Wände und die alten Hieroglyphen, »dann war für
die ja jeder Tag Halloween!«
»Jeder Tag«, riefen die anderen voller Bewunderung.
»Ja, und für die auch«, sagte Downground
und zeigte mit dem Finger.
Die Jungen fuhren herum.
Eine Art grünliches Leuchten erfüllte die Grabhöhle. Der Boden
wankte wie bei einem Erdbeben. Irgendwo drehte sich ein Vulkan im
Schlaf um und erhellte mit seiner feurigen Schulter die
Wände.
Und an den Wänden gegenüber waren prähistorische Wandbilder von
Höhlenmenschen, die lange vor den Ägyptern gelebt hatten.
»Jetzt«, sagte Downground.
Ein Blitz zuckte herab.
Säbelzahntiger hielten schreiende Höhlenmenschen gepackt. Andere
versanken in Teergruben. Kreischend gingen sie unter.
»Wartet. Laßt uns ein paar mit Feuer retten.«
Downground zwinkerte. Blitze setzten einen Wald in Brand. Ein
Höhlenmensch riß im Rennen einen brennenden Ast ab und stieß ihn
einem Säbelzahntiger in den Rachen. Der Tiger brüllte und ergriff
die Flucht. Der Höhlenmensch grunzte triumphierend und schob den
brennenden Ast in einen Haufen dürrer Blätter in seiner Höhle.
Andere kamen hinzu und wärmten ihre Hände am Feuer. Sie lachten in
die Nacht, wo die gelben, verängstigten Augen der Bestie
warteten.
»Seht ihr?« Downgrounds Gesicht wurde vom flackernden Schein des
Feuers beleuchtet. »Die Tage der Langen Kälte sind vorbei. Durch
diesen einen mutigen Mann, der etwas Neues gedacht hat, kann nun
der Sommer in einer winterlichen Höhle leben.«
»Aber«, sagte Tom, »was hat das mit Halloween zu tun?«
»Was das damit zu tun hat? Bei meinen Knochen! Alles! Wenn du und
deine Freunde jeden Tag sterben, habt ihr einfach keine Zeit, über
den Tod nachzudenken, stimmt’s? Ihr habt genug damit zu tun,
davonzulaufen. Aber wenn ihr endlich nicht davonzulaufen braucht
…«
Er berührte die Wände. Der Höhlenmensch blieb mitten in seiner
Flucht stehen.
»… dann könnt ihr darüber nachdenken, woher ihr kommt und wohin ihr
geht. Und das Feuer leuchtet euch auf dem Weg. Feuer und Blitze.
Morgensterne, die ihr betrachten könnt. Das Feuer in eurer Höhle
beschützt euch. Erst am Nachtfeuer konnte der Höhlenmensch, der
Affenmensch endlich seine Gedanken am Spieß rösten und mit dem Öl
der Verwunderung bestreichen. Die Sonne am Himmel starb. Der Winter
kam wie ein großes weißes Tier, das sich schüttelte und ihn unter
seinen Haaren begrub. Würde der Frühling je wieder zurückkehren?
Würde die Sonne im nächsten Jahr wiedergeboren werden, oder würde
sie ermordet bleiben? Das fragten sich die Ägypter. Eine Million
Jahre vorher fragten sich die Höhlenmenschen dasselbe. Wird die
Sonne morgen wieder aufgehen?«
»Und 50 hat Halloween angefangen?«
»Mit solchen langen Gedanken in der Nacht, Jungs. Und im
Mittelpunkt der Gedanken war immer das Feuer. Die Sonne. Die Sonne,
die immerfort am kalten Himmel stirbt. Wie sich die ersten Menschen
gefürchtet haben müssen! Das war der Große Tod. Was, wenn die Sonne
für immer verschwinden würde?
Also warfen sich die Höhlenmenschen in der Mitte des Herbstes, wenn
alles abstirbt, im Schlaf hin und her und erinnerten sich an die
Toten des vergangenen Jahres. In ihren Köpfen riefen Geister nach
ihnen. Geister sind Erinnerungen, aber das wußten die
Höhlenmenschen nicht. Spät in der Nacht riefen, winkten, tanzten
die Erinnerungs-Geister vor ihren Augen, so daß die Höhlenmenschen
erwachten, erschauerten, Zweige ins Feuer warfen und weinten. Sie
konnten Wölfe vertreiben, aber nicht ihre Erinnerungen, ihre
Geister. Also hielten sie sich umklammert, beteten um den Frühling,
bewachten das Feuer und dankten den unsichtbaren Göttern für die
Ernte aus Früchten und Nüssen.
Halloween, ja. Vor einer Million Jahren, im Herbst, in einer Höhle,
mit Geistern, die in den Köpfen herumspuken, und einer Sonne, die
immer schwächer wird.«
Downgrounds Stimme verklang.
Er wickelte noch ein, zwei Meter seiner Mumienhülle ab, legte sie
würdevoll über den Arm und sagte: »Es gibt noch mehr zu sehen.
Kommt.«
Und sie traten aus den Katakomben hinaus in die Abenddämmerung
eines Tages im alten Ägypten.
Vor ihnen lag eine große Pyramide und erwartete sie.
»Wer zuletzt oben ist«, sagte Downground, »ist ein faules
Ei.«
Das faule Ei war Tom.